20.03.2024

Die erste Häkelmaschine der Welt kommt aus Bielefeld: HSBI-Team entwickelt die erste industriell anwendbare Lösung für eine technikgeschichtliche Lücke

Detailaufnahme des Maschinenkopfs der Häkelmaschine Auf einer Schiene sitzt eine ornagene Halterung in der ein grünes Gehäuse einmontiert ist darin befindet sich die Häkelnadel
Ein innovatives mechatronisches System in Kombination mit Komponenten aus dem 3D-Druck steuert die Nadel des CroMat milimetergenau an die richtige Stelle. © P. Pollmeier/HSBI
Doppelporträtbild von Lukas Storck und Liska Steenbock Storck steht links im Bild und trägt eine schwarzes Sakko Darunter hat er ein rotes Hemd an Steenbock steht in einem grünen Rollkragenpullover rechts von ihm
Wollen das Potenzial gehäkelter technischer Textilien heben: Projektleiter Jan Lukas Storck (l.) und Liska Steenbock von der AG MTex³ an der HSBI. © P. Pollmeier/HSBI
Liska Steenbock sitzt im Labor der AG Textile Technologien an einem Laptop und schaut nach links wo Jan Storck vor der Häkelmaschine CroMat steht und per Hand den Maschinenkopf einstellt
Mit der Entwicklung der ersten industriell anwendbaren Häkelmaschine knüpft das Team um Liska Steenbock an die bisherigen Patente der AG Textile Technologien und die Bielefelder Industriegeschichte an. © P. Pollmeier/HSBI
Detailaufnahme der Hände von Liska Steenbock In ihrer rechten Hand hält sie eine Hrote Häkelnadel in ihrer linken Hand ein blaues Garn Mit der Häkelnadel sticht sie durch die Maschen in ihrer linken Hand und bildet ein Gewebe
Eine große Herausforderung des Teams bestand darin, die intuitiven Bewegungsabläufe des Häkelns in konstante Bedingungen und Befehle der Programmiersprache G-Code zu übertragen. © P. Pollmeier/HSBI
Liska Steenbock und Jan Storck stehen mit dem Rücken zur Kamera vor einer weißen Tafel Steenboc die links steht zeigt mit ihrer flachen Hand in Richtung der Tafel Storck hat in seiner rechten Hand einen roten Filzstift und zeichnet eine Nadel
Von der ersten Skizze bis zur praktischen Umsetzung: Der Entwicklungsprozess konnte nicht auf vorhandene Technik aufbauen. Deshalb musste jeder Schritt von Grund auf entwickelt werden. © P. Pollmeier/HSBI
Detailaufnahme von drei kleinen gehäkelten Textilien die auf einem grauen Untergrund liegen Die Häkeltextilien bestehen aus orangenem Garn und haben die Formen eines T sowie einer Röhre
Interessant könnten gehäkelte Textilien vor allem für endkonturnahe Verbundwerkstoffe sein. Ihr Vorteil könnte in der Fähigkeit liegen, direkt die Form des späteren Bauteils anzunehmen. © P. Pollmeier/HSBI

Einst prägten innovative Textilmaschinen die Bielefelder Wirtschaftsgeschichte für mehr als einhundert Jahre. Mit der Entwicklung der ersten industriell skalierbaren Häkelmaschine knüpft ein Projekt der AG MTex³ am Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik der HSBI im Kleinen an diese Tradition an. Der im Projekt entwickelte CroMat füllt eine technikgeschichtliche Leerstelle mit Technologie aus dem 3D-Druck und der Hilfe eines Mikrocontrollers.

Bielefeld (hsbi). Das Erste, wovon man sich im Labor der AG Research on Materials for Functional Textiles and 3D printing (MTex³, ehemals Textile Technologien) trennen muss, sind die Bilder im Kopf. Hier gibt es keine strickende Großmutter, es liegen keine Wollknäuel herum und es gibt auch keine Topflappen oder Schals. Stattdessen stehen Liska Steenbock und Jan Lukas Storck in einem hellen Raum im Hauptgebäude der Hochschule Bielefeld (HSBI), in dem sich auf jeder möglichen Ablagefläche ein Gerät, eine Maschine oder ein Rechner findet. Mit diesem Equipment hat die Arbeitsgruppe am Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik ihre Entwicklungen der letzten Jahre vorangetrieben. Für gewöhnlich drehen sich die Projekte der Arbeitsgruppe um Leiterin Prof. Dr. Dr. Andrea Ehrmann um technologische Lösungen für die textilen Probleme der Gegenwart und Zukunft: Smarte Textilien, Herstellung von Nanofasern oder textile Substrate für die vertikale Landwirtschaft lauten einige der letzten Themen. Auf dem Tisch vor Steenbock und Storck steht heute aber die Antwort auf eine mehr als 100 Jahre alte technikgeschichtliche Frage.

Häkeln galt als nicht automatisierbar. Der CroMat zeigt: es geht doch

Porträtbild von Jan Lukas Storck Er steht vor einer grauen Wand in einem schwarzen Sakko unter dem eimn rotes Hemd hervorschaut in einem Treppenhaus der HSBI Er hat mittellange dunkelbraunes Haar das er nach hinten gekämmt trägt
Rund drei Jahre arbeiteten Projektleiter Jan Lukas Storck und sein Team an der Entwicklung ihres nun patentierten Prototyps.

„Im Gegensatz zu nahezu allen anderen Textiltechniken galt das Häkeln als nicht maschinell umsetzbar, weil es zu komplex sei. Wir haben gezeigt, dass es doch geht“, beschreibt Projektleiter Jan Lukas Storck den technikgeschichtlichen Kontext, in dem sich die neueste Erfindung seiner Arbeitsgruppe bewegt. Fast drei Jahre tüftelte das Team um Storck und Steenbock an der Entwicklung eines Prototyps der weltweit fortschrittlichsten Häkelmaschine. Der sollte nicht nur mit dem alten Pauschalurteil aufräumen, dass die zahlreichen und komplexen Maschenarten des Häkelns nicht maschinell gebildet werden können. Zugleich sollte die Häkelmaschine auch die Vielfalt automatisierbarer textiler Strukturen demonstrieren. Durch diesen konkreten Anwendungbezug soll der Prototyp für zukünftige Investitionen attraktiv werden, die ihn bestenfalls zur Serienreife bringen. „CroMat“ (zusammengesetzt aus dem englischen Wort „Crochet“ für Häkeln und Automation) nennt die AG ihren fertigen Prototypen. 2022 ließ die Gruppe ihre Neuentwicklung außerdem als Patent eintragen. Damit steht der CroMat auch in direkter Nachfolge des allerersten Häkelmaschinenpatents, das Andrea Ehrmann mit weiteren Mitgliedern der AG schon 2017 veröffentlichte.

Technik aus CNC-Fräsen und 3D-Druck ist die Grundlage der neuen Textilmaschine

Auf den ersten Blick sieht die technische Weltpremiere noch relativ unscheinbar aus: Auf einem mit Traversen verbundenen Rahmengestell von ungefähr 50 x 60 cm stehen sich eine Reihe Zungennadeln, an deren hakenförmigen Ende eine winzige Klappe sitzt und eine Schiebernadel als Verkörperung der Häkelnadel gegenüber. Storck und Steenbock sprechen beim Blick auf die prägenden Komponenten ihres Prototyps von „Hilfsnadelbett“ und „aktiver Nadel“. Letztere ist in einen motorisierten Maschinenkopf eingebettet und kann auf einer Schiene die Nadelreihe millimetergenau abfahren und wie die Nadel beim Häkeln in die Maschen einstechen. Die Befehle dafür erhält der Nadelkopf in der Programmiersprache G-Code, die auch beim 3D-Druck oder beim CNC-Fräsen verwendet wird. „Noch sieht es ein bisschen nach Lego Technic aus“, muss Storck, der in den letzten Zügen seiner Promotion liegt, beim aktuellen Anblick des Prototypen selbst ein wenig lachen. „Aber unsere Idee war, dass man durch die modulare Bauweise Komponenten unkompliziert austauschen kann. Diesen Ansatz des Rapid Prototyping haben wir auch in unserer Entwicklung verfolgt und viele Teile per 3D-Druck selbst erstellt.“

CroMat - die erste industriell anwendbare Häkelmaschine der Welt © P. Pollmeier / HSBI

Alles steht und fällt mit der Reproduzierbarkeit des Textils

Mit diesem innovativen System will das CroMat-Team mit dem bis heute gängigen Vorurteil aufräumen, dass Häkeln nur als reine Handarbeitstechnik für den Hobbybereich taugt. „Ein Grund dafür ist der eher dekorative Charakter gehäkelter Textilien. Es gab aber auch nie einen industriellen Anwendungsfall für gehäkelte Stoffe. Und wo es keinen Anwendungsfall gibt, lohnen sich die Investitionen in Automatisierung nicht“, erklärt sich Liska Steenbock den langen Weg zur ersten skalierbaren Häkelmaschine. Genau das soll der CroMat ändern und die Vorteile gehäkelter Textilien für industrielle Anwendungen attraktiv machen. Dafür müssen die hergestellten Textilien aber zuerst „reproduzierbar“ sein. In der Praxis bedeutet das: Sie müssen in immer gleichbleibender Qualität produziert werden können. „Genau dafür braucht es maschinelle Verfahren, denn von Hand gehäkelte Textilien bleiben selbst in herausragender Qualität immer Einzelstücke“, begründet die Ingenieurin das bisherige Fehlen technischer Häkelstoffe.

Komplexe Handbewegungen müssen in Programmiersprache übersetzt werden

Anders als ihr Kollege Storck beherrschte sie das Häkeln schon, während der sich das Bilden von Luftmaschen, Kettmaschen oder halben Stäbchen erst autodidaktisch aneignen musste. „Einer der spannendsten Aspekte im Entwicklungsprozess war für mich, die vielen Arten von Maschen und ihre komplexen Handbewegungen in Programmierbefehle der Maschine zu übersetzen und zu sehen, dass es am Ende funktioniert“, berichtet Steenbock über die zurückliegenden Monate. In mühevoller Kleinarbeit mussten die Grundmaschenarten sowie alle möglichen Kombinationen der Maschen von Hand vorgehäkelt werden. Anschließend wurden die Bewegungsabläufe in Maschinenbefehle übersetzt und die entstandenen Strukturen am Rechner modelliert. Rund 30 Befehle kamen so zusammen, die nun das Zusammenspiel der Maschine steuern.

Die größte Schwierigkeit für das Entwickler:innenteam bestand darin, mit der Nadel zuverlässig in die von den Hilfsnadeln gebildeten Maschen einzustechen. „Beim Handhäkeln ergibt sich die passende Einstichstelle intuitiv durch die Lage der Masche und die daran angepasste Bewegung der Häkelnadel“, erklärt Storck den Basisvorgang des Häkelns. Für eine maschinelle Anwendung braucht es rund um diesen Vorgang aber konstante Bedingungen. „Das heißt: Die Einstichstellen müssen immer offen und an vorhersagbaren Stellen liegen. Genau dieses Problem lösen wir, indem wir eine Masche an zwei Hilfsnadeln aufhängen.“

Anwendungsfälle: vom Bootsrumpf bis zum fair gehäkelten Textil

Bild des Häkelmaschinenprototyps Die Maschine besteht aus einem aufrechten rechteckigen Rahmengestell in das eine Nadelreihe eingelassen ist und einem quer dazu montierten weiteren Rahmen in dem der Kopf mit der Häkelnadel sitzt
CroMat nennt das Team der AG MTex³ seinen Prototypen für die erste industriell skalierbare Häkelmaschine der Welt. In einem überwiegend mechanischen Segment besticht er durch seinen innovativen mechatronischen Aufbau.

Herzstück des komplexen mechatronischen Aufbaus des CroMat ist eine handelsübliche Platine eines 3D-Druckers mit einem Mikrocontroller. Innerhalb der immer noch überwiegend mechanisch angetriebenen Welt der Textilmaschinen stellt ihr Einsatz eine echte Innovation dar. Überhaupt kosten die Einzelkomponenten des CroMat nicht viel: Auf rund 1.000 Euro schätzt Storck die bisherigen Entwicklungskosten, ohne die selbstgedruckten Komponenten aus dem 3D-Drucker.

Neben dem geringen Preis soll der Prototyp aber vor allem durch seine Produkte interessant für einen potenziellen Partner werden. Nach der Weiterentwicklung zur Serienreife könnten vom CroMat produzierte Textilien überall dort interessant werden, wo es um Qualität statt Quantität oder um komplexe Formen geht: „Am interessantesten sind für uns endkonturnahe Faserverbundstoffe, bei denen die textile Verstärkung schon die Form des späteren Bauteils hat“, benennt Storck eines der von der AG angepeilten Einsatzgebiete. Gemeint sind damit Werkstoffe, bei denen ein Textil mit einem andersförmigen Material wie Harz oder Kunststoff kombiniert wird. Bekanntestes Beispiel der Familie ist das „Fiberglas“, aus dem u.a. Bootsrümpfe, Badewannen oder die Platine des CroMat gefertigt werden.

Dreidimensionale Gewebe könnten die Marktlücke für den CroMat sein

Bei den mit Textilien verstärkten Verbundstoffen wird dabei häufig ein flächig produziertes Textil in die Form des Bauteils gebracht. „Dadurch können aber Schwachstellen im Textil und Verschnitt entstehen“, macht Storck auf ein Defizit bisheriger Verfahren aufmerksam. Eine Lösung liegt für ihn in dreidimensionalen Textilien, die direkt die Form des Bauteils nachbilden. „Genau dafür eignet sich das Häkeln besonders gut, weil die Nadel an jeder beliebigen Stelle neue Maschen bilden und dadurch komplexe Formen herstellen kann“. Dafür müssen die Textilien aktuell noch von Hand umgehängt werden – doch auch bei anderen Textilmaschinen sind manuelle Zwischenschritte üblich.

Detailaufnahme von Liska Steenbock und Jan Lukas Storck die nebeneinander auf einer Treppe sitzen und auf ein gehäkeltes Textil in Form eines Ts schauen das Steenbock in ihrer rechten Hand hält
Dreidimensionale Textilien wie dieser T-Träger könnten eine Anwendunsmöglichkeit für den CroMat sein.

Für den Konsument:innenbereich ist der CroMat vorerst nur als Ergänzung gedacht

Aber auch klassische Häkeltextilien wie Schals, Mützen oder Taschen könnte der CroMat herstellen. Eine automatisierte Produktion würde hier das Potenzial besitzen, nicht länger auf die häufig unter prekären oder ausbeuterischen Bedingungen hergestellten Häkeltextilien angewiesen zu sein. Doch in näherer Zukunft soll der CroMat das Handhäkeln lediglich ergänzen: „An allem, was den Reiz des Häkelns ausmacht, ändert der CroMat nichts“, räumt Liska Steenbock alle dementsprechenden Befürchtungen aus. „Aus Garn und Häkelnadel mit der eigenen Kreativität Textilien, Kleidung oder Dekorationen zu erschaffen, wird auch weiterhin vielen Menschen Freude machen. Wir wollten nur zeigen, dass all das auch maschinell möglich ist.“ (mkl)

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